Ein Obelisk in jedem Rucksack

 

Aufregende Mitteilungen über die Geheimnisse von Paris, mit zahlreichen pornographischen Untertönen. - Der Tourist als Verkörperung des absoluten Nichts. - Wir brechen den Langstreckenrekord im Taxi-Umwegfahren - Ich werde wie durch ein Wunder in die Privatwohnung eines Franzosen eingeladen und dort von den sieggewohnten Truppen der Grande Armee überrannt. - Die Gefahren des Rauchens. - Ich begebe mich freiwillig meiner Touristen-Immunität und beschwöre eine gastronomische Katastrophe herauf. - Warum es sich nicht empfiehlt, mit dem Hemd über der Hose auf dem Montmartre spazieren zu gehen. - Endlich: Begegnung mit dem authentischen Geschlechtsleben und der Prostitution. - La Belle et la Bete. - Eine fröhliche Großmutter steigt in einem goldenen Käfig aus den Wolken herab und verursacht mir die zwei schlimmsten Stunden meines Lebens.

 

Kaum rollt der Zug über die Grenze nach Frankreich, wird dem Reisenden zumute wie einem Astronauten, der das Gravitationsfeld der Erde verlassen hat. Alle bisherigen Lebensbedingungen sind aufgehoben. Im herkömmlichen Sinn existiert man nicht mehr. Gewiß, man atmet, man ißt, man bewegt sich noch - aber niemand bemerkt es, niemand nimmt es zur Kenntnis. Man ist Luft. Man ist ein ausländischer Tourist.

Auf dem Höhepunkt der Reisesaison halten sich in Paris, der Hauptstadt der Welt, ungefähr eine Million Fremde auf. Es ist wirklich nicht zu erwarten, daß die armen Franzosen sich in dieser babylonischen Vielfalt von Völkern und Sprache auskennen. Und noch in einer ändern Erwartung wird man enttäuscht. Man stellt mit Schrecken fest, daß man des Französischen unkundig ist, daß man vom Französischlehrer (oder von der Französischlehrerin) der eigenen Jugendjahre schmählich betrogen wurde. Man kann sich auf Französisch nicht verständigen, oder höchstens mit Italienern.

Zum Teil liegt allerdings auch das an den Franzosen selbst: weil sie so wahnsinnig schnell reden. Ihnen macht das keine Schwierigkeiten. Aber für den Fremden ist es eine Katastrophe. Einmal hatte ich in einem Lebensmittelgeschäft einen Einkauf getätigt und fragte nach der Höhe der Rechnung; der Ladeninhaber antwortete in Sekundenschnelle: »Senksansenkansenk.«

Ich bat ihn durch Worte und Gesten um eine langsamere Wiederholung, worauf er seine Anstrengungen verdoppelte: »Senksansenkansenksenksansenkansenk!!«

Als ich noch immer nicht verstand, rang er nach Luft, schluckte, griff nach einem Bleistiftstummel und schrieb die Ziffer aufs Ladenpult: 555. Auch das ging sehr schnell, aber jetzt verstand ich.

Wir waren am späten Morgen in der Lichterstadt angekommen. Alles ging planmäßig vonstatten, es herrschte freundliches Wetter, die Reise war angenehm, und im Hotel St. Paul, 15 rue St. Honore, war für uns ein Zimmer reserviert. Obendrein hatten wir im Zug einen alten Freund getroffen, der zeitweilig in Paris lebte und uns mit ein paar guten Ratschlägen versah:

»Ihr müßt unbedingt darauf achten, ein kleines Taxi zu nehmen«, riet er uns. »Beim Einsteigen nennt ihr Namen und Adresse eures Hotels, und bis zum Aussteigen sprecht ihr kein weiteres Wort. Pariser Taxichauffeure wittern Fremde auf hundert Meter gegen den Wind. Und ihr wißt, welche Folgen das für eure Brieftasche hätte.«

»Wir wissen es von Lipschitz«, bestätigten wir und machten sofort ein paar kurze Sprechproben. Da die beste Ehefrau von allen als echtbürtige Sabre das gutturale R perfekt beherrscht, wurde sie mit der Nennung der Adresse betraut und übte fleißig den entscheidenden Satz: »Quinze rue St. Honore, Hotel St. Paul... quinze rue St. Honore...«

Ferner riet uns unser Freund, bei der Adressenangabe und anderen wichtigen Verhandlungen eine Zigarette lässig im Mundwinkel baumeln zu lassen, was nicht nur typisch französisch aussähe, sondern auch gewisse Unebenheiten unserer Aussprache camouflieren würde. Und während der Zug schon in die Halle rollte, schloß er ab:

»Euer Hotel liegt in der Nähe der Place de la Concorde, wenige Minuten vom Bahnhof. Die Fahrt sollte euch nicht mehr als drei neue Francs kosten.« Alsbald hatten wir ein kleines Taxi gefunden, und während wir unser Gepäck unter den wachsamen Blicken des Chauffeurs in den Kofferraum zwängten, veranstaltete unser Freund eine französische Schnellfeuer-Konversation, die wir nur gelegentlich durch einen kleinen Bestandteil unsres reichen Vokabelschatzes unterbrachen, etwas durch ein »oui«, ein »non« oder ein stummes Achselzucken.

Dann war es so weit. Nachdem wir unsrem Freund noch einmal zugewinkt hatten, steckte meine Frau eine Zigarette in ihren Mundwinkel, schaltete ihr bestes eingeborenes Guttural- R ein und sagte: »Quinze rue St. Honore, Hotel St. Paul.«

Es läßt sich nicht leugnen, daß wir maßlos aufgeregt waren. Aber der Fahrer merkte nichts. Mit geschäftsmäßiger Gleichmütigkeit startete er und fuhr los. Alles war in bester Ordnung. Wir ließen uns in den Sitz zurücksinken, eng aneinandergeschmiegt wie ein Liebespaar, so daß unser Schweigen dem Fahrer nicht weiter auffiel. Nach wenigen Minuten passierten wir den Obelisk auf der Place de la Concorde. Meine Frau griff nach der französischen Zeitung, die ich demonstrativ in der Hand hielt und kritzelte mit ihrem Augenbraunstift an den Rand:

»Wir werden gleich im Hotel sein. Der Idiot von einem Fahrer hält uns für Franzosen.«

Unerforschlich jedoch ist Gottes Ratschluß, wahrhaft unerforschlich. - Ein paar Sekunden später öffnete meine Frau ihre Handtasche, warf einen angstvoll suchenden Blick hinein und erbleichte:

»Oj!« rief sie in lautem, unverfälschtem Hebräisch. »Wo, um Gottes willen, sind unsere Pässe?«

Ich hielt ihr rasch den Mund zu (die Pässe befanden sich, wie immer, in meiner rechten Brusttasche) und versuchte im Rückspiegel das Gesicht des Fahrers zu erspähen. Umsonst. Nun, wenigstens hatte er sich nicht nach uns umgewandt. Es schien mir nur, als ob er ein paarmal mit den Ohren gezuckt hätte. Sonst geschah nichts. Außer, daß er plötzlich das Lenkrad scharf nach links drehte und Gas gab. Unruhe erfaßte uns. Es war keine Frage mehr: Der Schrek- kensruf meiner Gattin hatte uns als Ausländer entlarvt. Jetzt hieß es handeln, sonst waren wir verloren. In die angespannte Stille - und so, daß der Fahrer es hören konnte - ließ ich mein bestes Französisch los:

»Comment allez vous? La plume de ma tante est plus belle que le jardin de mon oncle. Garcon, je voudrais manger. L'ad- dition, s'il vous plait.« Noch während die Durchsage lief, sah ich im Rückspiegel das eine Auge des Fahrers auf mich gerichtet, direkt auf mich, ein großes, graues, stählernes, unbarmherziges Auge. Ich begann zu zittern und fühlte, wie mir der Schweiß ausbrach. In diesem Augenblick fiel die beste Ehefrau von allen aus einer instinktiven Eingebung über mich her und begann mich zu küssen, a la Parisienne, wie eben nur Französinnen in der Öffentlichkeit zu küssen verstehen... Als der Kuß zu Ende war, zeigte das Taxameter 5,60 Francs. Der Fahrer hatte uns durchschaut. Er wußte, daß wir keine Franzosen waren. Er, Jean-Pierre wußte es. Auch die Art, wie er jetzt fuhr, war immer ein Beweis dafür. Immer neue Linkskurven warfen uns immer wieder in die rechte Ecke des Fonds. Kaum hatten wir die Seine überquert, kam wieder eine scharfe Wendung nach links und dann wieder die Seine. Wir überquerten sie mehrere Male. Dann passierten wir einen langen Tunnel und dann einen neuen Obelisk. Ich konnte mich einer tadelnden Bemerkung nicht enthalten:

»Diese Franzosen mit ihren ewigen Säulen«, flüsterte ich meiner Gattin zu.

»Es ist der Obelisk von vorhin«, entgegnete sie tonlos. Das Taxameter stand auf 9 Francs. Das war genau das Dreifache der von unsrem Freund veranschlagten Summe. Vielleicht interessiert es den geneigten Leser, warum wir nichts unternahmen, um den Wagen, der wie ein scheugewordener Satellit im Weltraum umhersauste, zu stoppen? Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Erstens sind wir beide von Natur aus eher schüchtern. Zweitens sprechen wir beide - der geneigte Leser erinnert sich vielleicht - sehr schlecht französisch. Und drittens: Was sollten wir tun? Ein andres Taxi nehmen? Schließlich hatte uns Jean-Pierre jetzt schon durch einen ansehnlichen Teil Frankreichs geführt, wir kannten seine Fahrweise, seine Eigenheiten und Schwächen - warum sollten wir uns auf Experimente mit einem neuen Chauffeur einlassen? Trotzdem gaben wir noch nicht völlig auf. Meine Frau versuchte es abermals mit einer Aktion a la Parisienne, aber ich war außerstande, ihr den richtigen Partner abzugeben. Wir mußten unsere Kräfte sparen, mußten unsere Verluste möglichst niedrig halten, um weiterzukämpfen. Jean-Pierre, daran bestand kein Zweifel, fuhr mit uns im Kreise. In regelmäßigen Intervallen von sechs Minuten kamen wir an dem Obelisk vorbei, also genau zehnmal die Stunde. Selbst wenn wir für die Verkehrsstauungen während der Stoßzeit eine geringere Quote einsetzten, ergaben sich noch immer rund 240 Obelisk-Umkreisungen pro Tag, und das bedeutete pro Woche...

Als das Taxameter auf 17 Francs sprang, öffnete der Fahrer das Handschuhfach und entnahm ihm eine erste Mahlzeit, bestehend aus belegten Broten, kleinen Essiggurken und Obst. In einer hebräisch geführten Lagebesprechung stellten wir fest, daß unsere eigenen Vorräte sich auf zwei Äpfel, eine Orange, eine vertrocknete Semmel und etwas Kaugummi beschränkten. Wenn wir sehr sparsam damit umgingen, könnten wir vielleicht bis morgen abend durchhalten. Länger nicht.

Plötzlich ging ein Aufleuchten über das sorgenvolle Antlitz meiner Frau:

»Benzin!« brach es jauchzend aus ihr hervor. »Der Kerl wird ja Benzin brauchen! Irgendwann muß er tanken - und wir sind gerettet!«

Ich beugte mich vor, um einen Blick auf den Kontrollanzeiger zu werfen. Der Tank war noch nicht einmal zur Hälfte geleert. Und das Taxameter stand auf 21,50.

Wir beschlossen vorsorglich, mit Einbruch der Dunkelheit immer abwechselnd eine Stunde zu schlafen, sonst würde Jean-Pierre vielleicht heimlich tanken und weiterfahren.

Fünf- oder sechsmal versuchten wir sein Wohlwollen zu erregen, indem wir beim Anblick des Obelisken ein bewunderndes »Oh!« ausstießen. Jean-Pierre reagierte nicht. Sein breiter, mächtiger Rücken blieb reglos, auch bei der schärfsten Linkskurve.

Das Taxameter zeigte 30 Francs. Ich nahm meine Nagelfeile und ritzte in den Plastikbelag der Querleiste folgende Inschrift:

»In diesem Taxi verhungerten im August 1963 Ephraim Ki- shon und Frau.«

Und dann, gerade als wir alle Hoffnung aufgeben wollten, hielt der Wagen an, ich weiß nicht wieso und warum. Vielleicht war Jean-Pierre von Müdigkeit überkommen worden, vielleicht von irgendwelchen menschlichen Regungen, von Gedanken an Weib und Kind - jedenfalls drehte er nach dem Obelisk auf der Place de la Concorde plötzlich nicht mehr links ab, sondern fuhr noch etwa hundert Meter geradeaus und hielt vor dem Hotel St. Paul.

»Quarantequatre«, sagte er.

Er meinte Francs, 44 Francs, mit Trinkgeld 48. Immerhin weniger als 50.

Wir brachten unsere steifgewordenen Gliedmaßen in Ordnung und kletterten aus dem Wagen. Und schon erwachte in meiner Gattin die nörgelnde Weibsnatur. Statt sich der endlichen Rettung zu freuen, ließ sie ihrer Empörung freien Lauf:

»Eine Unverschämtheit! Wenn das ein israelischer Chauffeur gewagt hätte, würde es gleich wieder heißen, daß so etwas nur in Israel möglich ist.«

Jean-Pierre streifte uns mit einem erstaunten Blick und bat den eben herangekommenen Hotelportier, unsere Worte zu übersetzen. Dann fragte er:

»Sie kommen aus Israel?«

Wir bejahten.

»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Israelis zahlen die Hälfte. Geben Sie mir 25 Francs, und der Fall ist erledigt... «

Der durchschnittliche Franzose kann keine Ausländer leiden, weil er das Gefühl hat, vom ganzen Universum einschließlich Sonne und Mond verraten und verkauft worden zu sein. Er liebt Frankreich und Siamkatzen, ehrt den amtierenden Präsidenten, auf daß er lange lebe auf Erden, verabscheut jedoch die Regierung, den Krieg, den Regen, den Fremdenverkehr, die Franzosen und sich selbst. Nach meiner persönlichen, wissenschaftlich nicht ganz unfundierten Ansicht rührt diese Gemütsverfassung von den allzu steilen Stiegen der Metro her; es könnte aber auch daran liegen, daß die letzte Tour de France von einem Belgier gewonnen wurde. Im übrigen sind nicht die Engländer, wie man allgemein annimmt, die wahren Meister im Distanzhalten, sondern die Franzosen. Sie haben sogar die Namensschilder an den Wohnungstüren abgeschafft, um garantiert unauffindbar zu bleiben.

Dennoch war Jean-Pierres großherzige Geste keiner bloßen Laune entsprungen. Die Israelis werden, seit sie im Suez-Feldzug Schulter an Schulter mit den Franzosen gegen die Amerikaner gekämpft haben, in Frankreich als Bundesgenossen betrachtet, und diese Bundesgenossenschaft trägt manchmal unerwartete Früchte. Ich, zum Beispiel, wurde einmal von einem Franzosen privat eingeladen. Ich. Von einem Franzosen. Privat. In seine Wohnung. In sein Heim. Ausländer, die seit mehr als zwanzig Jahren in Frankreich leben, versicherten mir, daß es in der glorreichen Geschichte des Landes keinen Präzedenzfall für eine solche Einladung gibt. Noch nie hat ein Ausländer die Wohnung eines Franzosen betreten, es sei denn, um die Fenster zu waschen. Und ich möchte ausdrücklich bemerken, daß mein Gastgeber, als er mich einlud, nicht etwa betrunken war, sondern den Eindruck eines ausgeglichenen, im Vollbesitz seiner gesunden Sinne befindlichen Menschen machte. Es handelte sich ganz offenbar um eine einmalige Naturerscheinung.

Allerdings machte ich seine Bekanntschaft beim internationalen Theater-Festival, und das bedeutet einige Minuspunkte. Während der Vorstellung einer israelischen Truppe saß ich neben einem älteren Herrn, der ununterbrochen wissen wollte, was zum Teufel denn eigentlich auf der Bühne los sei. Ich erklärte ihm, daß er das Leben in einem sogenannten »Kib- buz« sähe, einer landwirtschaftlichen Kollektivsiedlung, wo die Menschen freiwillig arbeiten, die eine Hand am Pflug, die andere am Gewehr, die dritte auf der Bibel. Mein neuer Freund, Monsieur Rapue, teilte mir daraufhin mit, daß auch er, oder genauer gesagt sein Großvater, gegen die Preußen gekämpft hätte. Von da wechselte unser Gespräch zu den Chinesen, zu Roulette, und zum Jüngsten Gericht. Möglicherweise war es dieses letzte Thema, das Monsieur Rapue veranlaßte, seine traditionelle Zurückhaltung aufzugeben und mich in seine Wohnung einzuladen.

»Kommen sie Freitagabend nach dem Diner«, sagte er.

»Es kommen auch noch ein paar andere Leute nach dem Diner.«

»Merci«, antwortete ich. »Ich komme also Freitagabend nach dem Diner.«

»Nehmen Sie die Metro Bonaparte bis zum Napoleon-Obelisk. Überqueren Sie die Place de la Grande Armee in Richtung Arc de Triomphe. An der Kreuzung der Avenue du 7 Novembre mit der Rue du 28 Mai finden Sie das Haus Marengo. Sie erkennen es an der links vom Eingang angebrachten Marmorplatte, aus der genau hervorgeht, wann der Grundstein dieses Hauses gelegt wurde. Es war genau 104 Jahre, nachdem Napoleon die italienischen Armeen an der Brücke von Marengo zerschmettert hatte. Auf Wiedersehen Freitagabend nach dem Diner.«

Am Freitagabend nahm ich ein umfangreiches Diner zu mir und machte mich auf den angegebenen Weg. Den zur Erinnerung an Napoleons Sieg bei Friedland errichteten Obelisk fand ich ohne Mühe, aber dort, wo die Place de la Grande Armee sein sollte, stand das Keramische Museum, das im Gebäude einer ehemaligen Kadettenschule untergebracht war. Nach einigen Minuten vergeblichen Wanderns bat ich einen Verkehrspolizisten um Auskunft. Er belehrte mich, daß der von mir gesuchte Obelisk nicht der Friedland-Obelisk sei, sondern der Obelisk zu Ehren des Siegs in Ägypten zwischen der Rue 11 Janvier und der Rue 12 Janvier. Anschließend fragte er mich nach meiner Nationalität. Ich gab mich als Israeli zu erkennen und sah, wie seine Augen aufleuchteten. Napoleon, so erklärte er mir, hätte vor der Unterwerfung Ägyptens bekanntlich Accra und Jaffa erobert. Ich nickte zustimmend, obwohl die Festung Accra gar nicht daran gedacht hatte, sich von Napoleon erobern zu lassen.

Kaum eine halbe Stunde später stand ich vor dem Haus Ma- rengo und eine weitere Viertelstunde später vor der Wohnung von Monsieur Rapue. Dort war bereits eine kleine, aber vornehme Gesellschaft versammelt. Alle sprachen fließend Französisch, eine Sprache, der meine hoffnungslose Liebe gilt. Nach einer Weile wandte sich die Unterhaltung dem Nahen Osten zu. Es herrschte volle Einigkeit über die strategische Bedeutung des Staates Israel.

»Schon zur Zeit, als der Kaiser vor der Unterwerfung Ägyptens Accra und Jaffa eroberte...« begann einer der Gäste und verlor sich in einer ausführlichen Schilderung der genialen taktischen Manöver, die der Korse im Schatten der Pyramiden durchgeführt hatte. Besonders an der Erscheinung der großen Feldherrn, wie er auf weißen Zelter einsam einen Hügel heranritt, indessen die Strahlen der untergehenden Wüstensonne seine Gestalt in einen goldenen Schimmer tauchten, entzündete sich die Phantasie des Sprechers. Das, so äußerte er verträumt, müßte eigentlich ein großartiges Gemälde abgeben.

(Zwei solche Gemälde hingen in Öl an der Wand.)

Ich meinerseits, als kurzfristiger Besucher mehr von praktischen Interessen beherrscht, erkundigte mich nach den Sehenswürdigkeiten, die ich während meines Aufenthalts unbedingt besichtigen müßte. Man nannte mir die folgenden:

Das Grab Napoleons. Den Arc de Triomphe. Sämtliche Kriegsmuseen, besonders die der Schlachten von Jena, von Austerlitz und von Wagram, aber auch alle anderen. Sämtliche Lieblingsschlösser des Kaisers, besonders das in Malmaison, in Saint Germain, in...

Mein Kopf begann sich zu drehen. Gewiß, Napoleon trägt mit Recht den stolzen Beinamen »der Adler«, aber ich habe auch für Spatzen etwas übrig. Vielleicht bin ich nur neidisch, weil er die Welt erobert hat und ich nicht. Und außerdem ist es mit seinen Welteroberungen, wenn man näher zusieht, nicht gar so weit. Unser Geschichtsprofessor im Gymnasium antwortete einmal auf die respektlose Frage, wozu Napoleon den ägyptischen Feldzug überhaupt unternommen habe: Der General wollte die Pyramiden nach Frankreich schaffen. Niemand weiß besser als ich, daß er statt dessen mit selbstgebastelten Obelisken hat vorlieb nehmen müssen...

Während solche und ähnliche Häresien mir durch den Kopf gingen, war die übrige Gesellschaft bei der Schlacht von Wagram angelangt, wo der Kaiser die vereinigten Armeen Rußlands, Preußens und Österreichs aufgerieben hatte, ehe er seinen berühmten Winterfeldzug begann und Moskau eroberte.

»Kein Feldherr außer Napoleon hat jemals Moskau erobert«, bemerkte ein anwesender Sportjournalist im Tonfall absoluter Endgültigkeit.

»Und nachher?« fragte ich.

»Was: nachher?«

»Ich meine: nachher.«

»Na ja, nachher... Der Rest ist Geschichte.«

Unser Gastgeber nahm einen Schluck von seinem Napoleon- Cognac und äußerte mit unüberhörbar gehässigem Unterton:

»Nachher tat sich eine Bande reaktionärer Kaiser und Könige zusammen, um den Genius der Revolution abzuwürgen.«

Ich wagte den flüsternden Einwand: »Aber war denn nicht auch Napoleon ein Kaiser? Und König von Italien?« »Eben!« lautete die beißende Replik. »Das konnten diese Snobs eben nicht ertragen...«

»Ich verzeihe den Engländern alles«, ließ sich ein andrer vernehmen, indem er die auf dem Kamin stehende Napoleon-Büste streichelte. »Schließlich sind sie keine Europäer. Aber daß der sadistische Gouverneur von St. Helena den Kaiser mit >Sir< angesprochen hat - das verzeihe ich ihnen nicht.«

Um dem Gespräch eine Wendung zu geben, bot ich einigen zunächststehenden Herrn von meinen Zigaretten an. Sie kehrten mir indigniert den Rücken. Erst jetzt entdeckte ich den Fauxpas, den ich begangen hatte: Es waren »Nelson«- Zigaretten, und das Porträt des legendären Admirals prangte deutlich sichtbar auf der Schachtel. Er sah so zufrieden aus, als hätte er gerade die französische Flotte vernichtet. Das Ganze war sehr peinlich. Auch mein verlegenes Gemurmel, daß irgend jemand dieses ungenießbare, ordinäre Kraut in meine Tasche geschmuggelt haben müsse, konnte den Wall aus eisiger Ablehnung, der mich umgab, nicht mehr durchbrechen. Ich verabschiedete mich, ohne daß mich jemand zurückgehalten hätte. Aus purer Höflichkeit - vermutlich um meinem Abgang einen harmlosen Charakter zu geben - fragte mich Monsieur Rapue nach meiner Londoner Adresse. Selig über die Chance, den Zorn der Gäste ablenken zu dürfen, sprudelte ich hervor:

»Wellington Circle. Ecke Trafalgar Square. Hotel Waterloo... um Gottes willen... « Niemand reichte mir die Hand. Mein Gastgeber geleitete mich wortlos zur Türe, ungerührt von meinen Beteuerungen, daß es nicht meine Schuld sei, wenn jede zweite Straße in London nach einer Schlacht oder einem Heerführer hieße, und wenn ihnen Namen wie Wellington oder Waterloo ausgingen, erfänden sie sogar andere, die sich darauf reimten, wie Kensington oder Bakerloo... Monsieur Rapue warf dröhnend die Türe ins Schloß.

Ich taumelte die Stiegen hinunter, überquerte die Rue de Tilsit und steuerte auf den nächstbesten Triumphbogen zu.

Für die Entwürdigung, die der große Korse seitens der Engländer erdulden mußte, rächen sich die Franzosen auf wahrhaft souveräne Art. Damit meine ich nicht etwa ihr Veto gegen die Aufnahme Englands in die EWG. Ich meine die französische Küche.

Ein Brite, der den Kanal überquert und in einem französischen Restaurant die erste Mahlzeit eingenommen hat, ist nicht derselbe wie zuvor. Seine Überzeugung von der Überlegenheit Englands über die Völkerschaften des Kontinents löst sich in nichts auf und entschwebt im würzigen Duft der Sauce chasseur au poivre, die dem Poulet farci Henri IV a la mode de la reine de Navarre sur un lit de riz prepare par le chef beigegeben ist. Er sieht die Welt fortan mit anderen Augen.

Auch ich, obwohl ich seit 1948 nicht mehr unter britischer Oberhoheit stehe, sondern ein autonomer Israeli bin, reagiere ganz ähnlich wie meine einstigen Mandatsherren. Von Zeit zu Zeit befällt mich manisch-depressive Sehnsucht nach der französischen Küche, schon die bloße Vorstellung einer Soupe a l'oignon treibt mir die Tränen des hoffnungslosen Verlangens in die Augen, und wehes Schluchzen durchschüttelt mich in Gedanken an die langen Stangen französischen Weißbrots, die man im Straßenverkehr an beiden Enden mit kleinen roten Flaggen versehen muß. Gewiß, auch die Italiener verstehen sich aufs Kochen, unternehmen aber - jetzt einmal abgesehen von den unentrinnbaren Spaghetti - ihre wirklichen Anstrengungen nur in den auf Fremdenverkehr eingestellten Restaurants. Die Franzosen hingegen machen aus dem Essen auch für sich selbst eine heilige Handlung. Davon kann man sich in jedem beliebigen Restaurant überzeugen.

Und das brachte mich an jenem Sonntag an den Rand des Hungertodes.

Tief im Bois de Boulogne, an der Kreuzung zweier schwer zugänglicher Seitenwege, liegt ein kleines, unauffälliges Restaurant, das nur von Einheimischen frequentiert wird. An jenem Sonntag barst es schier von Gästen, und am Eingang wartete eine Schlange eßlustiger Franzosen auf das Freiwerden von Plätzen. Zwischen den dichtbesetzten Tischen eilten zwei schwitzende, unter der Last ihrer Arbeit tief gebückte Kellner hin und her und bestätigten aufs neue die alte Regel, daß es in einem französischen Restaurant entweder zu viel oder zu wenig Kellner gibt, aber nie die richtige Anzahl. So unverkennbar echt war die Atmosphäre, mit so authentischem Zauber nahm sie mich gefangen, daß ich in sträflichem Leichtsinn alle Warnungen der Eule Lipschitz vergaß und mich an einen Tisch setzte, der wunderbarerweise vollkommen leer inmitten des Lokals stand. Lässig ließ ich mich auf den freien Stuhl nieder (es war nur ein einziger vorhanden), räkelte meine drahtigen Glieder und stellte nicht ohne Befriedigung fest, daß ich mich in verhältnismäßig kurzer Zeit bereits völlig an den Lebensstil der Franzosen angeglichen hatte. Dann griff ich nach der Karte, überflog sie geübten Blicks und entschied mich für ein Entrecôte.

»Garcon!« rief ich in bestem Französisch. »Un entrecôte!«

Der Kellner, einen Ausdruck aristokratischer Unnahbarkeit im Gesicht und sieben hochgetürmten Tellern in den Händen, wischte an mir vorbei, ohne mich auch nur anzusehen. Ich wartete, bis er aus der Gegenrichtung wieder den Tisch passierte:

»Gareon! Un entrecôte!«

Diesmal würdigte mich der Aristokrat wenigstens eines flüchtigen Blicks, aber das war auch alles. Ich strich ihn aus der Liste meiner Bekannten. Ohnehin sah sein Kollege, der einen buschigen Schnurrbart trug, aussichtsreicher aus:

»Gargon! Un entrecôte!«

Der Angeredete - er trug außer dem Schnurrbart eine noch größere Anzahl von Tellern als sein Vorgänger - verschwand wortlos in der Menge. Jetzt wurde ich doch ein wenig unruhig und fragte mich, ob ich nicht vielleicht in die Stoßzeit geraten wäre. Rings um mich löste der größere Teil der Pariser Bevölkerung mit hörbarem Vergnügen das sonntägliche Ernährungsproblem. Und mir als einzigem sollte diese Lösung versagt bleiben? Als ich den Aristokraten wieder herannahen sah, sprang ich auf und verstellte ihm den Weg:

»Garcon! Un entrecôte!«

Er rannte mich nieder. Er ging über mich hinweg, als ob er mich nicht gesehen hätte. Ich war unsichtbar geworden. »Lipschitz!« zuckte es durch mein Hirn, während ich mich mühsam vom Boden erhob. Hatte mir Lipschitz nicht gesagt, daß man als Tourist kein Mensch sei? Offenbar war das ganz wörtlich zu verstehen. Vielleicht war ich schon tot und wußte es nicht...

Ein hungriges Knurren aus meiner Magengegend brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Als der Schnurrbart wieder an meinem Tisch vorbeikam, erwischte ich ihn an den Frackschößen:

»Garcon! Un entrecôte!«

»Sofort«, antwortete er und suchte sich verzweifelt aus meinem Doppelnelson herauszuwinden. Aber ich ließ nicht locker. Ich stellte ihm die Frage, die mich schon seit einiger Zeit beschäftigte:

»Warum geben Sie mir nichts zu essen?«

»Das ist nicht mein Tisch!« Er begleitete diese Auskunft mit einigen heftigen Tritten gegen mein Schienbein.

Ich ließ ihn los. Wenn das nicht sein Tisch war, dann hatte ich kein Recht, ihn zurückzuhalten.

Mit erneuter Inbrunst wandte ich mich dem Aristokraten zu, suchte durch lautes Klatschen seine Aufmerksamkeit zu erregen und durch körperliches Dazwischentreten seinen Weg zu blockieren. Er ging abermals durch mich hindurch. Jetzt begann mein Erfindungsgeist zu arbeiten. Ich konstruierte eine - wenn auch primitive - Falle. Als er das nächste Mal, bepackt mit einer enormen Ladung Desserts, den an meinem Tisch vorüberführenden Engpaß durchbrechen wollte, sprang ich auf, schob meinen Stuhl hinter ihn und schnitt ihm mit einem blitzschnellen Umgehungsmanöver von vorne den Weg ab. Wie ein Obelisk ragte ich vor ihm auf. Jetzt gab es kein Entrinnen für ihn:

»Garcon! Un entrecôte!«

Er versuchte einen strategischen Rückzug, fand aber die Ausfallstraße durch meine Barrikade unpassierbar gemacht.

»Monsieur«, sagte er und maß mich mit einem mörderischen Blick. »Das ist nicht mein Tisch.«

Ich verstand. Endlich verstand ich. Das also war der Grund, warum dieser Tisch so wunderbarerweise leerstand. Es war ein Niemandstisch im Grenzgebiet zwischen zwei Großmächten, ein verlassener Vorposten am Rand der Wüste, wo nachts die Schakale heulen und höchstens dann und wann ein Atomphysiker auftaucht. Instinktiv sah ich unter den Tisch, ob dort nicht vielleicht ein paar Skelette lägen. Die Eule Lipschitz fiel mir wieder ein. Ich war ein Tourist. Ich war ein Ausgestoßener. Was sollte aus mir werden. Mit elementarer Gewalt ergriff mich das dem Psychologen so wohlbekannte, urmenschliche Bedürfnis, zu irgend jemand zu gehören.

»Dein bin ich, dein mit Leib und Seele«, wisperte ich ins Ohr des Aristokraten, der zufällig in meiner Nähe eine kleine Schnaufpause machte. »Ich gehöre dir, ich schare mich um dein Banner, ich -«

»Lassen Sie mich in Ruhe oder ich hole die Polizei«, zischte der Aristokrat und brach in westlicher Richtung aus.

Ich begann zu weinen. Nichts ist schlimmer als Einsamkeit. >Ephraim<, sagte ich zu mir selbst, >du mußt etwas tun. Du mußt bei einem Kellner deine de-facto Anerkennung durchsetzen, sonst hast du zu existieren aufgehört!< Mit letzter Kraft sprang ich auf und winkte dem Schnurrbart, der mit einer Lieferung angenehm duftenden Geflügels unterwegs war:

»Gargon! L'addition!«

Der Schnurrbart warf mir einen Blick zu, aus dem klar hervorging, daß er auf diesen schäbigen Trick nicht hereinzufallen gedächte, und setzte seinen Weg fort.

>Wenn ich jetzt<, dachte der Faschist in mir, während ich dem Schnurrbart haßerfüllt nachsah, >wenn ich jetzt eine Plastikbombe in der Tasche hätte, dann wäre es um ihn geschehen!<

In diesem Augenblick trat eine unvorhergesehene Wendung der Dinge ein, und zwar in Gestalt eines vierschrötigen, glatzköpfigen Mannes, der sich vor der Küchentür aufpflanzte und einen selbstbewußten Feldherrnblick über das Terrain schweifen ließ.

Der Chef! Ich stürzte auf ihn zu und schilderte ihm mit bitteren Worten, wie seine Kellner mich behandelten.

»Schon möglich«, meinte er gleichmütig. »Es sind eingeschriebene Mitglieder der kommunistischen Partei, einer wie der andre.«

»Und was soll ich jetzt machen?«

Der Chef zuckte die Achseln:

»Ich habe mit einem dritten Kellner Fühlung aufgenommen. Angeblich kommt er Ende der Woche...«

»Aber was mache ich bis dahin?«

»Hm. Haben Sie unter den Gästen nicht vielleicht einen Bekannten, der für Sie bestellen könnte?«

Einen Bekannten? Ich? Hier, mitten im Urwald? Ich schüttelte den Kopf.

Der Chef tat ein gleiches und zog sich in die Küche zurück, während ich - mit jener weiblichen Unentschlossenheit, die ein typisches Merkmal der untergehenden Bourgeoisie ist - meinen hoffnungslosen Platz im Niemandsland wieder einnahm.

Der Hunger trieb mich zur Verzweiflung. Ich mußte über die Grenze gelangen, koste es, was es wolle. Unauffällig, mit kleinen, sorgfältig berechneten Rucken, begann ich den Tisch im Sitzen aus dem Niemandsland hinauszuschieben. Zoll um Zoll, langsam aber unaufhaltsam, kämpfte ich mich zum Territorium des Schnurrbarts durch, von jeder Deckung Gebrauch machend, die sich unterwegs bot. >Bald<, so ermunterte ich mich, >bald bin ich unter Menschen... die Rettung ist nahe...<

Nichts da. Die Grenzpolizei schnappte mich. Und an dem Schicksal, das einem ausländischen Infiltranten bevorstand, war nicht zu zweifeln:

»Schieben Sie den Tisch sofort zurück!« herrschte der Schnurrbart mich an.

Was jetzt über mich kam, läßt sich rationell nicht erklären. Es wurzelt tief in archaischen Trieben. Mit einem heiseren Aufschrei warf ich mich über den Kellner, riß vom obersten Teller eine halbe Ente an mich und schob sie in den Mund. Sie schmeckte betörend. Schon streckte ich die Hand nach den Petersilienkartoffeln aus - aber da hatte der Kellner sich aus seiner Starre gelöst und begann zurückzuweichen:

»Monsieur...«, stammelte er. »Monsieur, was tun Sie da...?«

»Ich esse«, antwortete ich bereitwillig. »Das wundert Sie, was?«

Aller Augen waren auf mich gerichtet. Das ganze Restaurant verfolgte atemlos den tatsächlich ein wenig ungewöhnlichen Vorgang. Leider kam der Aristokrat dem Schnurrbart zu Hilfe, und auch der Chef schämte sich nicht, mit den Kommunisten gemeinsame Sache zu machen. Ihren vereinten Anstrengungen gelang es, den Rest der Ente aus meinen Händen zu winden. Dann, unter den Hochrufen der Zuschauer, hoben sie mich auf und trugen mich zur Türe. Unterwegs entschloß ich mich, kein Trinkgeld zu geben.

»Hunger!« brüllte ich. »Hunger! Ich will essen!«

»Warten Sie, bis Sie bedient werden«, sagte der Schnurrbart. »Sie sind hier nicht im Ritz«, fügte der Aristokrat hinzu.

Von diesen beiden war nichts zu erwarten. Ich wandte mich an den Chef:

»Hören Sie«, beschwor ich ihn. »Engagieren Sie mich als Kellner!«

Es war zu spät. In weitem Bogen flog ich durch die Türe, kam nach einer glatten Bauchlandung auf die Füße und wandte mich um.

Der Chef stand da und sah mich mit einem beinahe teilnahmsvollen Gesichtsausdruck an:

»Monsieur - gehen Sie in irgendein Restaurant auf den Champs-Elysees. Das ist das richtige für Touristen...«

Ich folgte seinem Rat und ging, wohin ich gehörte. Ich verkroch mich hinter den schützenden Mauern eines Restaurants auf den Champs-Elysees und ertränkte mein Leid in einer hervorragenden Bouillabaisse. Drei klassische Kellner tanzten für mich ein klassisches Bedienungsballett. Auch lehrten sie mich, die langstieligen, mit Widerhaken versehenen Geräte zu gebrauchen, die dem Kundigen dazu dienen, auch noch das kleinste Stück Fleisch aus dem entlegensten Hinterbeinchen der Languste hervorzustochern. Willig folgten Finger und Zähne ihren Anweisungen; aber mit dem Herzen war ich nicht bei der Sache... Zum Dessert kredenzte man mir Crepe de mocca parfait flambee a l'eau de Cologne, von dem ich genug übrigließ, um mich damit zu besprengen, als ich die Rechnung sah.

Meine Verzweiflung wuchs. Wer bin ich und was soll ich noch auf Erden, fragte ich mich mit einer an Hamlet grenzenden Melancholie. Die Franzosen wollen mich nicht haben, oder nur als Touristen. Aber einen Touristen, der so wenig Geld hat wie ich, wollen sie erst recht nicht haben.

... An dieser Stelle entartete mein Selbstgespräch zum Dialog, und eine andre innere Stimme flüsterte mir zu: »Geh zu deinen Brüdern im Geiste! Geh zu deinesgleichen! Du bist ein Schriftsteller, ein Künstler! Dein Platz ist bei den Bohemiens!«

Ich nahm den nächsten Bus zum Montmartre, stieg aus und ließ mich selig mit dem farbenfrohen Strom des Künstlervölkchens treiben. Anders ausgedrückt: Ich setzte mich in ein Cafe, bestellte einen Wermut und beobachtete das Durcheinander ringsrum. Und was für ein Durcheinander! Am Nebentisch schluchzte gerade eine kleine Wasserstoffblondine an der Schulter eines jungen backenbärtigen Mannes mit Brille. Etwas weiter entfernt gab eine betagte Sexbombe einer interessiert lauschenden Zuhörerschaft Erinnerungen an ihre zerstörte Jugend preis. Daneben hielt ein unrasierter, wild um sich blickender Rollkragenträger einen leeren Transistor an sein Ohr.

Hier diskutierten sechs langhaarige Jünglinge über eine von ihnen gezüchtete Kreuzung zwischen Neo-Dadaismus und Kafka, dort bereiteten sich zwei reglose, stark geschminkte Frauengestalten in stummer Umarmung auf die nächsten Schicksalsschläge vor. Ein halbnacktes, atemberaubend schönes Blumenmädchen setzte sich neben einen afrikanischen Matrosen, zog ein Buch hervor und begann zu lesen. In einer Ecke versuchte ein trübsinniger Student durch Verschlucken eines Löffels Selbstmord zu begehen, aber der Kellner, der für die Vollzähligkeit des Bestecks verantwortlich war, fiel ihm in den Arm. Zwei Schauspielerinnen fanden die Hitze so unerträglich, daß sie sich zu entkleiden begannen, worauf der Kellner sofort einen Polizisten herbeirief, damit auch er das Vergnügen des Zuschauens genösse. Ein an Elefantiasis leidender Bildhauer entlockte einer Miniaturflöte elektronische Musik, eine berühmte Dichterin führte ihr Bulldogg-Weibchen von Tisch zu Tisch und sammelte Almosen für den angeblich gestern eingetroffenen Wurf, ein weißhaariger Ziehharmonikaspieler begleitete die Umarmung eines Liebespaares mit sentimentalen Melodien, Zigaretten und Zündhölzer flogen durch die Luft, Sprachfetzen und Gelächter bahnten sich den Weg durch die Schwaden aus Rauch und Alkohol. Und inmitten dieser Orgie der Zusammengehörigkeit und Lebensfreude aß nur ein einziger Mensch einsam an seinem Tisch, und das war ich.

Noch nie im Leben hatte ich mich so einsam gefühlt, so vergessen, verlassen und verloren. Hätte ich nicht die Gewohnheit gehabt, bei heißem Wetter (wie es an diesem Tag herrschte) mein Sporthemd über die Hose heraushängen zu lassen - ich wäre wohl nie in Kontakt mit der Umwelt gekommen.

Es war, wie ich gleich vorausschicken will, kein erfreulicher Kontakt.

Ich hatte nämlich mit einemmal die deutliche Empfindung, daß das linke untere Ende meines heraushängenden Hemds sich von mir fortbewegte. Vorsichtig wandte ich mich um - und in der Tat: mein Nachbar am Tisch zur Linken hatte sich meines Hemdes bemächtigt und putzte damit seine Brillengläser, große dicklinsige Gläser in schwarzer Hornfassung. Ich hatte den Herrn nie im Leben gesehen. Und jetzt saß er da und putzte sich mit meinem Hemd die Brille.

Etwa eine Minute lang herrschte Schweigen, nur vom Rhythmus des Putzgeräusches unterbrochen. Dann raffte ich mich auf:

»Monsieur«, sagte ich, »was fällt Ihnen ein?«

»Das sehen Sie doch«, lautete die Antwort. »Glotzen Sie nicht so blöd.«

»Vielleicht könnten Sie Ihre Brille mit Ihrem eigenen Hemd putzen?«

»Mein eigenes Hemd steckt in meiner eigenen Hose. Das sehen Sie doch.«

Er hob die Gläser gegen das Licht, um festzustellen, ob sie schon ausreichend geputzt wären. Offenbar waren sie es nicht. Als ich merkte, daß er die Putzarbeit fortzusetzen beabsichtigte, wollte ich ihm mein Hemd entziehen; aber da kam ich schön an:

»Was ist denn los?« rief er. »Lassen Sie mich gefälligst meine Brille putzen!«

»Nicht mit meinem Hemd!«

»Warum nicht?«

»Zum Beispiel, weil ich Sie nicht kenne.«

»Bosco.« Mit einem leichten Kopfnicken stellte mein Nachbar sich vor. »Und hören Sie schon auf zu glotzen.«

Diese Entwicklung der Dinge ging mir sehr gegen den Strich. Jetzt, da wir persönlich miteinander bekannt waren, war es für mich schon um vieles schwerer, ihm mein Hemd zu verweigern.

»Ja, aber...« stotterte ich. »Das ist ein ganz neues, sauberes Hemd...«

Ich muß zugeben, daß ich da kein besonders schlagkräftiges Argument gebraucht hatte, aber ein besseres fiel mir nicht ein. Auch daß ich von einigen Nebentischen her mit feindseligen Blicke angestarrt wurde, machte meine Position nicht leichter.

Bosco, der seinen taktischen Vorteil sofort erkannte, hielt das Ende des Hemds aktionsbereit in der Hand:

»Wenn es kein sauberes Hemd wäre, würde ich es nicht für meine Brillengläser verwenden. Es sind sehr teure und sehr empfindliche Gläser. Also.«

»Dann zerren Sie wenigstens nicht daran«, mahnte ich mit schwacher Stimme, während er schon wieder weiterputzte.

»Wer zerrt?« fragte Bosco ungehalten und entnahm der Tasche seines Sporthemds eine andere Brille mit dunkelgrünen Gläsern.

»Nein«, sagte ich energisch. »Keine Sonnenbrillen bitte.«

»Sie langweilen mich«, replizierte Bosco. »Geben Sie endlich Ruhe.«

Jetzt wurde mir die Sache denn doch zu dumm. Schließlich war ich Tourist, ein Ausländer, ein Fremdenverkehrsheber, im Grunde genommen sogar ein Gast dieses Landes. Ich kannte Bosco kaum, und jedenfalls nicht gut genug, um ihn seinen gesamten Brillenvorrat mit meinem Hemd putzen zu lassen. Aber die öffentliche Meinung stand natürlich auf seiner Seite, daran ließ der Gesichtsausdruck der Umsitzenden keinen Zweifel. »Sie jämmerlicher Outsider«, sagten ihre Blicke. »Sie Eindringling. Sie Egoist. Sie überheblicher, asozialer Wichtigtuer. Sie scheinen ja Ihr Hemd für das Kostbarste auf Erden zu halten? Seien Sie froh, daß es endlich zu etwas Vernünftigem taugt. Sie haben überhaupt keinen Sinn für Zusammengehörigkeit, kein Empfinden für kollektive Verantwortung, kein Solidaritätsgefühl. Sie sind nicht wert, hier zu sitzen, Sie hergelaufener Niemand mit Ihren schäbigen Lumpen... «

Als es so weit war, raffte ich alle meine Kräfte zusammen:

»Genug! Ich will nicht mehr!«

»Und warum nicht?«

»Darüber schulde ich Ihnen keine Rechenschaft! Oder bin ich verpflichtet, jedem mein Hemd zum Brillenputzen zu überlassen?«

»Jedem?! Wieso jedem?!« Von allen Seiten drangen entrüstete Rufe auf mich ein. »Wer außer Bosco hat denn schon seine Brillen geputzt? Wer ist denn auf Ihr idiotisches Hemd angewiesen? Warum sprechen Sie von >jedem<, wo doch nur Bosco...« Den Rest hörte ich nicht mehr. Ich hatte bereits die Türe erreicht. Dort aber blieb ich stehen, wandte mich um und stopfte mit herausfordernder Langsamkeit mein Hemd in die Hosen.

Sollte der geneigte Leser erwarten, daß ich mich jetzt endlich dem Kapitel »Die Pariserin« zuwenden würde, dann steht ihm eine herbe Enttäuschung bevor. Mein Kontakt mit der Pariser Weiblichkeit blieb auf eine einmalige, flüchtige Begegnung beschränkt; es war eine sympathische, schon etwas ältere Dame, die mich auf dem Boulevard St.-Michel fragte:

»Guten Abend, Monsieur, wohin gehen Sie?«

Ihr diskreter Tonfall und ihr solides Äußeres ermutigten mich zu der Auskunft:

»Ich habe eine Verabredung mit meinem Freund Nachum Gottlieb.«

Damit sprach ich, wie immer, die lautere Wahrheit. Ich überlegte sogar, ob ich ihm meine neue Zufallsbekanntschaft nicht mitbringen sollte. Aber sie zeigte kein Interesse daran und setzte ihren Abendspaziergang fort.

Mit Nachum war ich von Israel her befreundet. Ich kannte ihn als einen gutherzigen, durchschnittlichen, ordentlichen Menschen - so richtig das, was man einen netten Jungen nennt. Unsre staatliche Schiffahrtsgesellschaft hatte ihn als Rechtsberater in ihre Pariser Niederlassung geschickt, und nun lebte er schon seit sechs Jahren in der Lichterstadt. Er hatte hier sogar geheiratet, eine hübsche, großäugige, junge Französin, vielleicht um eine Kleinigkeit zu mager, insgesamt jedoch eine echte Repräsentantin jenes unvergleichlichen, filigranen Frauentyps, den man eben nur in Paris findet, charmant, elegant und mit Bleistiftabsätzen an den zarten Schuhen, die nur ganz knapp die zarten Sohlen ihrer zarten Füßchen bedeckten. Sie hieß Claire.

Nachum erwartete mich bereits vor seinem Büro. Wir wanderten zunächst ein wenig den Boulevard entlang, und als es kühler wurde, zogen wir uns in ein Cafe zurück. Ich fragte Nachum, wie es seiner Frau ginge.

Zu meiner Überraschung antwortete er nicht, sondern senkte den Kopf und zog seine Rockaufschläge über der Brust zusammen, als ob ihn fröstelte. Ich wiederholte meine Frage.

Langsam, mit einem waidwunden Blick, hob Nachum den Kopf und sagte kaum hörbar:

»Sie spricht nicht mit mir...«

Es dauerte lange, ehe seine schwere Zunge sich zu lösen begann. Ich lasse seine Geschichte, die vom ewigen Thema der grundlosen Eifersucht handelt, in einer verkürzten Fassung folgen. Sie könnte den gleichen Titel tragen wie Jean Cocteaus berühmter Film »La Belle et la Bete«.

»Du bist der erste Mensch, mit dem ich über mein tragisches Familienleben spreche«, begann Nachum. »Und selbst dazu kann ich mich nur überwinden, weil du bald wieder wegfährst. Ich bin vollkommen ratlos. Ich bin am Ende. Ich kann ohne Claire nicht leben. Sie ist für mich die Luft, die ich zum Atmen brauche... Ich weiß, was du jetzt sagen willst. Sag's nicht, obwohl du recht hast. Natürlich hätte ich besser auf sie achtgeben müssen. Ich hab's ja auch versucht. Aber gerade das war das Unglück, Ich habe etwas getan, was ich nie hätte tun dürfen. Und daß ich es nur aus Liebe zu ihr getan habe, hilft mir nicht. Sie wird mir nie verzeihen...«

Ich konnte aus seinem Gestammel nicht recht klug werden und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter:

»Na, na, na. Erzähl hübsch der Reihe nach. Die ganze Geschichte. Ich verspreche dir, daß ich sie in meinem Reisebuch nicht veröffentlichen werde.«

»Es fällt mir so fürchterlich schwer«, seufzte Nachum.

»Weil das Ganze zu fürchterlich dumm ist. Es begann mit einem anonymen Brief, den ich vor ein Paar Monaten zugeschickt bekam. Ein aufrichtiger Freund< teilte mir mit, daß meine Frau mich mit dem Friseur von vis-a-vis betrog. Und du weißt ja, wie so etwas weitergeht. Zuerst glaubt man kein Wort - will sich mit einer so schmierigen Denunziation gar nicht abgeben - dann merkt man, daß doch etwas hängengeblieben ist - und dann beginnt das Gift zu wirken...«

»So ist die menschliche Natur«, bestätigte ich. »Man glaubt einem dummen Tratsch viel eher als den eigenen Augen.«

»Richtig. Ganz richtig. Genauso war es. Aber ich begnügte mich nicht damit, meiner Frau insgeheim zu mißtrauen. Ich beschloß, sie auf die Probe zu stellen. Ich Idiot.«

»Wie hast du das gemacht?«

»Ich erzählte ihr, daß ich für drei Tage geschäftlich nach Marseille verreisen müßte, verabschiedete mich herzlich wie immer und verließ mit dem Koffer in der Hand die Wohnung. Diesen kindischen Trick hielt ich für besonders raffiniert. Dann stellte ich den Koffer in einem nahe gelegenen Bistro ab, verbrachte die Zeit bis Mitternacht im Kino - ging nach Hause - schloß leise die Wohnungstüre auf - ich weiß bis heute nicht, was da in mich gefahren war - schlich auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer - knipste das Licht an - und - und-«

»Und deine Frau lag friedlich im Bett und schlief.«

»So wie du sagst. Sie lag friedlich im Bett und schlief.

Auch sonst war alles auf dem üblichen Platz. Nur auf dem Nachttisch sah ich ein halb leergetrunkenes Glas Orangensaft mit zwei Strohhalmen stehen. Das war der einzige Unterschied. Sie müssen zusammen aus einem Glas getrunken haben.«

»Wer-sie?«

»Meine Frau und der Friseur. Nämlich - damit du die Situation richtig beurteilst - auch der Friseur lag friedlich im Bett und schlief. Er hatte sogar einen meiner Pyjamas an.«

»Ich - hm - wie bitte? Ich verstehe nicht.«

»Na ja. Auch ich stand zuerst ein wenig verständnislos da. Dann erwachten die beiden, ungefähr gleichzeitig, und blinzelten ins Licht. Claire setzte sich halb auf, maß mich von Kopf bis Fuß mit einem verächtlichen Blick, und in ihrer Stimme lag ein kaum verhohlener Abscheu: >Aha!< rief sie. >Du spioniert mir nach! Du erzählst mir Märchen aus Tausendundeiner Nacht, von Schiffen, von Marseille, was weiß ich, du spielst mir ein Theater vor mit Abschiednehmen und Koffern, du gebärdest dich wie ein Mustergatte - und heckst dabei einen teuflischen Plan nach dem ändern gegen mich aus! Ein feines Benehmen, wirklich! Aber ganz wie du willst, Nachum. Wenn das nach deinem Geschmack ist - bitte sehr.< Das waren Claires Worte. Jedes von ihnen traf mich wie ein Keulenschlag. Noch dazu in Gegenwart eines Fremden.«

»Was... was hat denn der Friseur währenddessen gemacht?«

»Eigentlich nichts. Er verhielt sich ruhig. Erst als meine Frau ihn fragte: >Nun sage mir, Michel, ob es sich lohnt, einem solchen Menschen treu zu sein?< - erst da stützte er sich auf seinen Ellbogen, schüttelte den Kopf und antwortete: >Wenn ich ehrlich sein soll, dann muß ich sagen, nein, es lohnt sich nicht!< Du siehst: Auch er fühlte sich von mir abgestoßen. Auch er unterlag dem Augenschein, der ja wirklich gegen mich sprach. Ich wollte Claire beruhigen, aber sie war außer sich vor Zorn. >Es ist einfach skandalös, Nachum !< rief sie mit bebenden Lippen. >Irgend jemand trägt dir einen idiotischen Tratsch über mich zu, und du glaubst sofort alles! Schnüffelst mir nach wie der Hund von Baskerville um Mitternacht! Du solltest dich schämen!< Damit drehte sie sich zur Wand, ohne meine Antwort abzuwarten.«

»Und der Friseur unternahm noch immer nichts?«

»Doch. Er stieg aus dem Bett und sagte: >Pardon, Madame, aber solche Auseinandersetzungen sind nichts für mich. Ich gehe .< Er holte meine Hausschuhe unter dem Bett hervor, schlurfte ins Badezimmer und begann sich zu duschen, man hörte es ganz deutlich. Ich war mit meiner Frau allein, versuchte ihr zu erklären, daß meine unsaubere Phantasie mir einen Streich gespielt hätte - vergebens. Sie warf mir einen Blick zu, daß ich vor Scham am liebsten in die Erde versunken wäre. Kannst du dir meine Situation vorstellen? Eigentlich war ich doch darauf aus gewesen, alles in bester Ordnung zu finden, wenn ich nach Hause käme! Ich hatte niemals ernsthaft geglaubt, daß es anders sein könnte! Und dann... Nur dieser elende anonyme Brief ist daran schuld. Er hatte mich um meinen gesunden Menschverstand gebracht. Und Claire warf mir das ganz mit Recht vor. >Deine Dummheit und deine Bösartigkeit entbinden mich aller Verpflichtungen<, sagte sie mit eiskalter Stimme. >Man kann von keiner Frau verlangen, einem Bluthund treu zu sein .< Und sie schluchzte herzzerreißend. Ich war für sie nicht mehr vorhanden. Und ich kann doch nicht leben ohne sie. Sie ist für mich die Luft, die ich zum Atmen brauche...«

»Und der Friseur?«

»Er war mittlerweile aus dem Badezimmer herausgekommen, fix und fertig angekleidet, und verabschiedete sich von Claire mit einem Handkuß. Mich würdigte er keines Blicks. So ist das Leben. Wer auf dem Boden liegt, bekommt auch noch Tritte...«

Nachum seufzte verzweifelt auf, barg sein Gesicht in den Händen und schloß:

»Claire will mit mir nichts mehr zu tun haben. Sie spricht nicht mit mir. Dieser kleine Fauxpas, den ich mir zuschulden kommen ließ, ist für sie Grund genug, um sich von mir abzuwenden. Da kann ich ihr hundertmal schwören, daß nur meine Liebe zu ihr mich auf den Irrsinnspfad der Eifersucht getrieben hat - sie hört mir nicht einmal zu. Was soll ich machen, was soll ich machen... «

Eine Weile verging schweigend. Endlich, nur um meinen vollkommen zusammengebrochenen Freund zu trösten, sagte ich:

»Es ist noch nicht aller Tage Abend. Kommt Zeit, kommt Rat. Morgenstunde hat Gold im Munde. Eines Tages wird Claire dir verzeihen.«

Über Nachums gramzerfurchtes Gesicht ging ein leiser Hoffnungsschimmer: »Glaubst du wirklich?«

»Ich bin ganz sicher. Und wenn du nächstens einen anonymen Brief bekommst, zerreiß ihn und wirf ihn weg.«

Die meisten ausländischen Besucher machen sich von der glitzernden Seine-Metropole ein ganz falsches Bild. Für sie ist »Paris« gleichbedeutend mit Liebe und Laster, mit einem Spinnennetz von engen Seitengassen, wo in schwülen, halbdunklen Nachtlokalen der Champagner in Strömen fließt und hüllenlose Tänzerinnen zur Begleitung erregender Musik die ganze Nacht lang Erotik produzieren. Nun, es gibt noch ein andres Paris!

Dieses andre Paris ist vielleicht weniger schwül und weniger eng, aber wer sich die Mühe macht, es aufzuspüren, wird dennoch reich belohnt. In diesem anderen Paris - dem wirklichen, dem ewigen - bieten keine flüsternden Straßenverkäufer »künstlerische Aktaufnahmen« feil, gibt es keine Schlepper, die den naiven Fremdling in halbdunkle Nachtlokale locken, keine Wolken aus Rauch und Champagnerdunst, kein billiges Striptease. Nein! Hier in diesem ändern Paris gibt es große, prächtige Kunststätten mit luxuriös eingerichteten Zuschauerräumen, wo der Ausländer bequem in geschmackvollen Fau- teuils sitzt, während hüllenlose Tänzerinnen zur Begleitung erregender Jazzmusik die ganze Nacht lang Erotik produzieren.

Es ist dieses andre Paris, von dem ich jetzt berichten will.

Das Wunder geschah: Wir bekamen zwei Billetts zu der seit Jahren ausverkauften Mammut-Musical-Show, die auf der ganzen Welt in aller Munde war. Ein lateinamerikanischer Tourist mußte im letzten Augenblick seine vor Jahresfrist gelösten Karten zurückgeben und nach Hause fahren, weil er übersehen hatte, daß das Datum der Vorstellung mit dem allmonatlichen Staatsstreich in seinem Heimatland zusammenfiel. So kam es, daß meine Gattin und ich in der ersten Reihe saßen, buchstäblich zu Füßen der ausgewählt schönen Girls, mit dem denkbar besten Blick auf die Finessen der Chore- graphie und die reiche Ausstattung der Bühne (Kostüme gab es nicht). Die Girls waren damit beschäftigt, lebende Bilder historischen Charakters zu stellen, aus der Geschichte der Menschheit im allgemeinen und aus der Geschichte unsres eigenen Volkes; zum Beispiel Judith und Holofernes, Josef und seine Brüder, Potiphars Weib und Salomes Schleiertanz. Das schmeichelte uns und hob unser Selbstgefühl. Nicht einmal die hinter uns erklingenden Rufe »Niedersetzen!« konnten uns etwas anhaben. Wir hatten gar nicht gewußt, daß die Geschichte Israels so voll von Glamour war.

Und dann stieg Großmutti herab...

Sie kam in einem eigens konstruierten goldenen Käfig vom Schnürboden der berühmten Music-Hall auf die Bühne geschwebt, und das ganze Ensemble streckte ihr die Hände entgegen, malerisch gruppiert, teils kniend, teils auf Zehenspitzen, zu einer majestätisch anschwellenden Musik mit der ständig wiederkehrenden Textzeile: »Da kommt sie, da ist sie, die Schönste der Welt!« Bekleidet war sie mit schwarzen Netzstrümpfen, einem eng anliegenden Pantherfell, einer blonden Haarkrone, exquisit verlängerten Wimpern, strahlenden Zähnen und einem gewaltige Dekollete, das die ganzen Reize ihrer 70 Jahre freigab (Die beste Ehefrau von allen tippte sogar auf 72, wenn auch nur flüsternd).

Damit hier kein Irrtum entsteht: Der Begriff »Großmutter« ist mir heilig. Die Großmutter hat meiner Meinung nach eine überaus wichtige Aufgabe im Schoß der Familie zu erfüllen, sei es als Babysitter oder als Verwalterin altehrwürdiger Kochrezepte, die andernfalls verlorengingen. Großmütter, kurzum, dürfen stets auf meine Liebe und Verehrung zählen. Vielleicht ist das der Grund, warum ich so empfindlich reagiere, wenn eine Großmutter plötzlich auf eine Bühne geschwebt kommt und sich im grellen Scheinwerferlicht der gaffenden Menge darbietet. Noch dazu war diese spezielle Großmutter nicht irgendeine Nummer im Programm, sondern der Star der Show, die göttliche Primadonna, die unvergleichliche Allround- Künstlerin, das Nationalheiligtum. Tatsächlich konnte ihre Stimme noch halbwegs mithalten. Aber Großmutti wollte unbedingt auch ihre tänzerischen Fähigkeiten zur Geltung bringen, ließ niemanden mehr an die Rampe, hopste wild umher, stand Kopf, schlug Räder, erzählte zweideutige Witze und benahm sich überhaupt so, wie Großmütter sich nicht benehmen sollen. Entweder war sie die Gattin des Direktors, oder sie hatte ausgezeichnete Beziehungen zur Artistengewerkschaft.

Indessen kam ich bald dahinter, daß sie ihren prominenten Rang einem ganz ändern Umstand verdankte: nämlich ihrer Meisterschaft in der Herstellung von »Kontakt mit dem Publikum«. Das war es, was ihr keiner nachmachte. Das war ihre Domäne. Die Art, wie sie das Mikrophon in die Hand nimmt... wie sie in den Zuschauerraum steigt... durch die Seitengänge streift... bei einem ausländischen Besucher anhält und mit ihm ein paar Worte in seiner Muttersprache wechselt... wie sie im Vorübergehen ein Scherzwort fallenläßt oder ein schlüpfriges Offert... wie sie einen friedlich dasitzenden Herrn auf die Glatze küßt... es ist einmalig.

An jenem schicksalsschweren Abend hatte sie für irgendwelche Bühnenzwecke drei männliche Besucher eingesammelt, einen baumlangen Amerikaner, einen eher kurzgewachsenen Spanier und einen beleibten Italiener. Nachdem sie den Widerstand der drei überwunden und sie auf die Bühne gezerrt hatte, wo sie von den kichernden Girls empfangen wurden, stemmte Großmutti die Hände in die pantherfellbekleideten Hüften, ließ ihre Blicke durch das Haus schweifen und verkündete:

»Ich brauch noch einen!«

Ohne zu prahlen, darf ich sagen, daß ich mich schon wiederholt in lebensgefährlichen Situationen befunden habe. Ich bin aus mehreren Gefangenenlagern entflohen, habe im israelischen Befreiungskrieg mitgekämpft und einmal sogar an einem Friedenskongreß der »Liga der Völkerverständigung« teilgenommen. Aber noch nie im Leben fühlte ich mich von so panischer Angst ergriffen wie in dem Augenblick, da Großmutti auf meinen Sitz in der ersten Reihe zusteuerte. Es war entsetzlich. Ich wurde abwechselnd rot und blaß, schrumpfte zusammen und suchte verzweifelt nach Deckung. Vor meinem geistigen Auge zogen blitzartig die schmerzlichsten Erinnerungen an meine glückliche Kindheit vorbei.

»Schön...«, zischte dicht neben mir die Schlange, mit der ich verheiratet bin. »Sie kommt dich holen!«

Im nächsten Augenblick stand Großmutti vor mir. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, aber da beugte sie sich schon über mich, und aus dem roten Querschlitz in ihrer erschreckend starren Maske drang die Frage:

»Woher kommst du, kleiner Liebling?«

Ich verkroch mich unter den Sitz und blieb stumm. Schließlich bin ich nicht verpflichtet, eine französische Frage zu verstehen.

»Er kommt aus Israel«, antwortete an meiner Stelle die Schlange neben mir laut und deutlich, während die Blicke der tausendäugigen Bestie Publikum von allen Seiten auf mich eindrangen.

Großmutti schwenkte die Hüften:

»Israel«, wiederholte sie genießerisch. »Oh-la-la. Schalom.«

Und sie schlang ihre Fangarme um mich. In diesem Augenblick begriff ich die Ursachen der religiösen Renaissance, die wir heute erleben. Der Mensch ist einsam. Inmitten einer feindlichen Umwelt ist er einsam und ganz auf sich gestellt. Er braucht ein höheres Wesen, an das er glauben kann, bei dem er Schutz findet vor den Fährnissen des Daseins. Ich selbst war ihnen schutzlos ausgeliefert.

Großmutti deutete mit ihrer von blauen Adern durchzogenen Greisinnenhand auf die Schlange und fragte:

»Das ist Madame?«

Ich schwieg beharrlich, aber die Schlange nickte freundliche Bejahung. Daraufhin wollte Großmutti wissen, ob Madame eifersüchtig sei.

»Laß den Blödsinn und geh nach Hause«, raunte ich hebräisch in Großmuttis Ohr. »Deine verlassenen Enkelkinder warten. Sie schreien nach Brot. Kümmer dich nicht um mich und geh... «

Krampfhaft versuchte ich, ihrem Klammergriff zu entrinnen.

Aber das war nur Wasser auf ihre klapprige Mühle. Unter dem stürmischen Beifall des Hauses drückte sie mich in den Sitz zurück und ließ sich mit unnachahmlichem französischen Chic auf meinen Schoß fallen. Eine detaillierte Schilderung des Vorgangs möchte ich mir ersparen. Genug daran, daß Großmutti meinen heftig widerstrebenden Kopf gegen ihr Dekollete preßte und mit rauher Stimme fragte:

»Siehst du gut, mein Kleiner?«

»Ich sehe Abscheuliches«, preßte ich mühsam hervor und mußte gegen den Hustenreiz ankämpfen, den die aufsteigenden Puderwolken mir verursachten. »Gehen Sie von meinen Knien herunter, oder ich rufe um Hilfe...«

»Ah, Cheri!« Großmutti erhob sich mit krachenden Knochen, küßte meine Nase und wollte mich auf die Bühne zerren. Dabei erwies sie sich als erstaunlich muskulös. Ich merkte das daran, daß der Griff, mit dem ich mich an der Armlehne meines Sitzes anklammerte, immer lockerer wurde.

»Mon choux«, kicherte sie und forderte das Orchester durch ein Nicken auf, einen munteren Can-Can zu spielen, indessen hinter meinem Rücken die beste Ehefrau von allen mir scheinheilig zusprach:

»Sei kein Spaßverderber, Ephraim! Sie meint es doch wirklich nett! Alle gehen auf das kleine Spielchen ein, nur du nicht!«

Unterdessen hatte Großmutti mit kundiger Hand meine Finger von der Sessellehne gelöst; einen nach dem ändern. Das Publikum jauchzte. Aber ich gab mich noch nicht geschlagen. Ich hatte unter meinem Sitz eine eiserne Leiste entdeckt, an der ich meine Füße einhaken konnte. »Verschwinde, alte Hexe«, keuchte ich. »Ich mag dich nicht.«

»Mon amour«, säuselte Großmutti, hob mich mit raschem Untergriff halbhoch und bugsierte mich auf die Bühne. Was weiter geschah, habe ich nur nebelhaft in Erinnerung. Laut Bericht meiner Gattin stand ich vollkommen groggy, mit offenem Mund und baumelnden Armen, neben Großmuttis anderen Opfern, ließ mir von einem Girl eine Papiermütze mit wippenden roten Federn auf den Kopf setzen und tanzte, während Großmutti den Takt klatschte, einige Takte Cha-cha-cha.

Als ich auf meinen Platz zurückkehrte, empfing mich die beste Ehefrau von allen sehr unfreundlich:

»Ich schäme mich für dich«, sagte sie. »Warum läßt du einen Narren aus dir machen?«

Nach einigen Tagen konnte ich mein Krankenlager verlassen und ein wenig Spazierengehen. Durch Zufall traf ich einen mir befreundeten Volkstanzexperten aus Israel. Im Gespräch erwähnte ich auch Großmutti.

»Ja, die kenne ich«, grinste er. »Die kommt schon seit Jahrzehnten mit demselben Trick aus. Holt aus dem Publikum ein paar >Touristen< auf die Bühne und läßt sie tanzen. Das Publikum hat natürlich keine Ahnung, daß es bezahlte Komparsen sind.«

»Wer?« fragte ich. »Wer ist was?«

»Die angeblichen Touristen. Die werden ja eigens dafür engagiert. Daß sich ein wirklicher Besucher zu diesem Blödsinn hergibt, kommt nur ganz selten vor. Aber warum fragst du? Sag mir nicht, daß sie dich herumgekriegt hat!«

»Mich?!« Mit einem souveränen Auflachen wies ich diese Zumutung glatt von mir. »Bist du verrückt geworden?«